versuche ueber politik

# 5 :   der Möllemann war's

Aaron soll seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bocks legen und über ihm alle Sünden der Israeliten, alle ihre Frevel und alle ihre Fehler bekennen. Nachdem er sie so auf den Kopf des Bockes geladen hat, soll er ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste treiben lassen,
und der Bock soll alle ihre Sünden mit sich in die Einöde tragen.

- Leviticus 16, 21-22

Es ist natuerlich klar, dass gewisse dinge besser irgendeinmal ad acta gelegt werden sollten. War ja nicht so schlimm, und jetzt gibt es doch ganz andere probleme. Schwamm drueber. Bygones. Es ist auch nicht mehr so wichtig, ueber vergangenes zu reden, schliesslich ist schon viel genug seitdem passiert, und ueberhaupt, man hat doch was getan, um das problem zu loesen. Was soll all das weitere gerede, all diese kommentare, und besonders die presse, irgendwann muss doch einmal schluss sein.

In der tat. Allerdings auf die korrekte art und weise. Da verschickt ein herr Möllemann einen flyer kurz vor der bundestagswahl, in dem innenpolitik ueber den umweg Israel gemacht werden soll, undifferenziert Sharon und Michel Friedman gegenuebergesetzt werden, und die ganze diskussion des fruehjahrs und sommers noch einmal neu variiert wird. Die sache als solche ist mehr als frivol, sie ist in der tat unertraeglich, und dem herrn Möllemann wird ja schliesslich auch der prozess gemacht.

Aber wie geschieht das, und warum? Was sind die "anklagepunkte"? Die finanzierung des flyers? Parteischaedigendes verhalten, fehlende solidaritaet mit dem vorsitzenden und dem restlichen parteivolk? Das kann doch nur ein witz sein, ist doch schon wieder so albern, dass es fast schon system hat, spass in der spasspartei halt. Verweigern wir uns doch mal dem problem als solchem und ziehen wir einen nebenkriegsschauplatz hoch.

Das problem besteht nicht in der finanzierung allein. Natuerlich ist diese auch wichtig, und wenn gesetzwidrig, so ist dem auf jeden fall nachzugehen. Aber darin besteht doch nicht der fall als solcher. Das problem ist nicht das "wie", es ist das "was", und irgendwie auch das "wer".

Der hausherr des so glaenzend gescheiterten projekts 18 brachte den Antisemitismus quasi durch die hintertuer in die politische diskussion, und wurde von seinem vorsitzenden dabei nur spaet, und dann nur halbherzig gebremst. Es gab keine echte politische und inhaltliche diskussion der partei, die der oeffentlichkeit das gefuehl haette geben koennen, man haette verstanden, worin das problem bestand und besteht. Es wurde ein schlusspunkt gesetzt, ein gelbes "basta", das wohl die kanzlerschaftsaspirationen nur noch unterstreichen sollte, und damit ruhe. Aber kein ende, siehe flyer.

- Auf jedem Schiff, das dampft und segelt, ist einer, der die Sache regelt. Und das bin ich.
- Andere reden. Ich handle.

- Guido Westerwelle, Mai 2002

Reden ist auch handeln, genauso wie nicht-handeln, aussitzen, verzoegern, verschleiern, abwarten. All dies sind getroffene entscheidungen, aus welcher kalkulation heraus sie auch fallen moegen. Möllemann mag sein antisemitisches spiel ja aus eigener initiative begonnen haben, Westerwelle aber hat ihn nicht daran gehindert, ihn sogar noch weiterhin unterstuetzt und nur maessig versucht zu beschwichtigen. Man mag das machtpolitik nennen. Oder angst vor dem populisten in der eigenen partei. Wie auch immer, wer mitspielt, indem er nicht wirksam gegenrede und kritik betreibt, wird mittaeter. Oder wird es besser, wenn aus wahlkampftaktischen und parteiinternen gruenden der streit innerhalb der partei von oben gedeckelt wird? Wohl kaum.

Der fall Möllemann ist ein fall Westerwelle und ein fall FDP. Alles andere ist realitaets- und wahrheitsfern. Man mag sogar momentan mitleid haben mit dem allzu geschassten herrn Möllemann, denn der verdacht liegt nahe, dass er nicht nur im eigenen interesse gehandelt haben mag. Und es nur die derbe form, nicht aber die inhalte waren, die ihn nun zum suendenbock machen sollen. Nein, das ganze ist noch nicht vorbei. Nicht, wenn politik wirklich eine bedeutung jenseits der prozentzahlen haben soll.



29. Dezember 2002

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