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1. Reflexionen1.1. SpracheSprache und Zeichen sind die Basis jeder Kommunikation, die Basis jeder Fiktion, jeder Überlieferung, jeder Wissenschaft und jeder Beschäftigung. Ohne Sprache wären wir nicht in der Lage zu kommunizieren - Sprache ist mehr als "nur" das, was normalerweise mit diesem Wort bezeichnet wird; Sprache geht über Wörter der geschriebenen und gesprochenen Sprache hinaus und beinhaltet daneben auch Gestik und Konnotationen. Mit Hilfe unseres Repertoires an Zeichen und Signifikanten sind wir in der Lage, unsere Umgebung zu beschreiben; dieser Zeichenvorrat ist es, der uns reden läßt - je größer er ist, um so komplexere Gebilde können wir benennen. Aber ist das eine derartig einseitige Beziehung? Führt die Sprache zur Benennung der Welt so, "wie sie ist"?[1] 1.2. ReflexivitätWalter Abishs Roman Alphabetical Africa reflektiert über den Aspekt des Zeichenvorrates - Kapitel um Kapitel kommt ein weiterer Buchstabe des Alphabetes als Anfangsbuchstabe eines Wortes hinzu; im ersten Kapitel beginnen alle Wörter mit "a", im zweiten kommen die Wörter mit "b" hinzu, bis die Entwicklung zum Ende hin wieder rückwärtig verläuft. Die Beredsamkeit, welche der neue Buchstabe ermöglicht, steigert sich bis zur Verwendung des gesamten Alphabetes und fällt doch wieder in sich zusammen. Afrika allein aber als Ausgangspunkt, als Anfang, als Abschluß, als Aufhänger - aber alles andere als ausschließlicher Angelpunkt, andererseits auch andere Angelegenheiten als allein Afrika: Sobald Sprache entgegen üblichem Gebrauch verwendet und entstellt wird, offenbart sich das dahinterstehende Mittel um so deutlicher. Um jedes Wort wird gekämpft, jeder Sinn muß neu bedacht werden. Und wenn aber auch alles verwendet werden kann, was vorhanden ist an Poesis - dem eigentlichen konstruierten Gegenstand kann sich nicht genähert werden, Afrika bleibt nur ein Ort, der bruchstückhaft zum Schauplatz verschiedener Handlungen wird. Schon allein das Alphabet selbst ist eine willkürliche Festlegung (von der Reihenfolge abgesehen) - beschränkt es sich doch allein auf geschriebene Sprache: Einzelne Zeichenkombinationen können durchaus anders ausgesprochen werden, als der Anfangsbuchstabe vermuten läßt. Doch dies ist nicht die einzige Willkür; nicht nur in der Differenz zwischen schriftlicher Fixierung und akustischer Realisierung liegt eine Konstruktion vor. Ein generelles Auflösen, eine "general reorientation[2]" von über Jahrhunderte konstruierten Ideen führt im Poststrukturalismus zu einer Krise der Repräsentation der Sprache und des Zeichens:
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2. Mittel und Zweck2.1. Signifier - SignifiedKommunikation und Denken beziehen sich auf erfahrene oder gelernte Zusammenhänge und Strukturen, auf Begriffe und Namen, die eindeutig zugeordnet werden und gleichungsartig abgerufen werden können. Doch damit nicht genug - jeder ordnet Signifikanten und Signifikate unterschiedlich zu, Nuancen ergeben sich aus persönlicher Erfahrung, Perspektive und linguistischer Kompetenz - und durch die Sprache selbst. Signifikant und Signifikat werden künstlich getrennt.[4] Jede Sprache hat ihre eigenen Regeln, eigene Perspektiven: Schon allein die Zuordnung eines Geschlechtes für jeden Gegenstand und jede Person, wie sie im Lateinischen, Deutschen und Französischen z.B. erfolgt, kann im Englischen nicht oder nur begrenzt nachvollzogen werden. Warum ist "das Mädchen" ein Neutrum, "die Tasse" aber Femininum? Ursprünglich wohl sogar vorhandene Hintergründe werden nicht mehr wahrgenommen oder sind verlorengegangen. In der Sprache sind nur noch unvollkommene Bilder vorhanden, Spuren, Verknüpfungen, die einem Zeichen ein oder mehrere Konzepte zuordnen.[5] 2.2. ZeichensystemeWas an Bedeutung in einem Zeichen erhalten geblieben ist, erschließt sich weder von allein noch kann man es völlig erschließen - für jedes Herantasten an einen Begriff benötigen wir erneut sprachliche Mittel, und sei es nur, daß wir mit dem Finger auf etwas zeigen. Denn nicht nur sind die sprachlichen Interpretationen der Realität subjektiv, dies gilt auch für unsere visuelle und andere Wahrnehmung. Nicht jeder sieht in einem bestimmten Gegenstand das gleiche, nicht jeder verbindet mit einem Begriff dasselbe - und doch nehmen wir für uns in Anspruch, eben dieses tun zu können: Die Realität so zu beschreiben, "wie sie ist". Sprache äußert sich im Verwenden von Signifikanten. Wir benutzen ein Zeichensystem, indem wir uns auf Konventionen stützen, welche sich oftmals über Jahrhunderte hinweg entwickelt haben; Konventionen nicht nur, was Phonetik oder Grammatik betrifft, sondern besonders Übereinkünfte, die sich auf die Struktur und das dahinterstehende Konzept eines Zeichens stützen. Dies ist eine Frage der Tradition.[6] |
3. Tradition3.1. GeschichteWenn wir von Sprache sprechen, meinen wir Fiktion - nun, eigentlich meinen wir Realität zu bezeichnen, aber ist das eigentlich möglich? Inwiefern liefert uns ein sprachliches Zeichen oder eine Zusammenstellung sprachlicher Zeichen, ein Text, eine eindeutige, originale Wiedergabe der Realität? Eine Wiedergabe, die objektiv und über jeden Zweifel erhaben, ja, im wahrsten Sinne wahr ist[7]? Genügen die Buchstaben allein, um Afrika zu beschreiben, oder genügen Bilder, Töne, Gerüche? Sind all diese Wahrnehmungsmöglichkeiten nicht letztlich an einen individuellen Geist gebunden, der diverse Ereignisse und Zustände nur individuell, nur subjektiv begreifen und beschreiben kann? Schon allein die Form beeinflußt Inhalt und Proposition eines Textes[8]. Jede Geschichtsschreibung ist Erzählung, ist Fiktion - sie mag auf Fakten basieren oder auf etwas, das Fakten nahekommt, aber durch die notwendige Verwendung von Sprache und Erzählung erfährt sie eine Modifikation, eine Individualisierung -Tendenzen, Vorlieben, Interpretationen des Schreibenden oder der Tradition kommen darin zum Ausdruck:
Oft mag ein gewaltig erscheinendes Werk sehr leicht darüber hinwegtäuschen, daß die Quellenbasis dafür doch recht gering war.[10] 3.2. AuthorshipWenn der Begriff der Individualität hier benutzt wurde, was bedeutet das? Heißt dies, daß ein Schriftsteller oder Historiograph auch gleichzeitig der Autor, der Urheber ist? Kann davon ausgegangen werden, daß Ideen und Vorstellungen und Interpretationen einzigartig quasi aus der Hand zu schütteln sind, daß sie das Ergebnis genialer Eingebung sind? Oder sind nicht vielmehr äußere Einflüsse viel höher anzusetzen als bisher? Schon allein die wissenschaftliche Notwendigkeit einer Bibliographie zeigt, daß alleinige Urheberschaft nur schwer aufrecht zu halten ist. Eltern, Verwandte, Freunde, Gruppen, Schule, Universität, Bücher, Filme, Fernsehen - eine Fülle verschiedener Ideen, die in ein Gehirn einfließen, welche diese dann verarbeitet, vielleicht für originell hält, was bloß eine Synthese bisher Gesagten ist:
Der Autor ist nur noch ein scriptor, nur noch die schreibende oder geschrieben habende Instanz[12]. |
4. Konstruktionen4.1. KategorienNicht nur auf Ideen und Gedanken läßt sich diese auseinandertreibende, auseinanderlaufende, diskursive Betrachtung ausdehnen. Dort, wo die Wissenschaft künstliche Grenzen zieht, ziehen muß, fließen doch die verschiedensten Fachgebiete ineinander - Physik, Chemie, Biologie konzentrieren sich zwar auf einzelne Teilgebiete, jedoch können sie effektiv bei genauester Betrachtung nicht getrennt werden[13] - es ist wie in einem Ökosystem: Jeder noch so kleine Bestandteil, und sei es ein Wasserfloh, hat Einfluß auf das Gesamtsystem. Neuere physikalische Theorien unterstützen diese ausgeweitete Sicht der Dinge sogar[14]. Der Diskurs als Grundlage wissenschaftlicher Betrachtung ermöglicht vielleicht nicht unbedingt, daß man sofort alles weiß und erfahren kann, aber er stellt eine realistischere Betrachtung der Realität dar, eine selbstreflexivere Form des Nachdenkens - man wird sich seiner Mittel und Beschränkungen eher bewußt. Dafür allerdings muß man sich von Begriffen wie Tradition oder Evolution lösen[15], schon allein weil sich die Wissenschaft selbst mit der Zeit verändert und nicht als kontinuierliches, statisches Gebilde zu betrachten ist[16]. 4.2. AbgrenzungBetrachtet man die Strukturen der Gesellschaft, jeder Gesellschaft und jedes Denkens, so fallen bei genauerer Betrachtung Strukturen auf, die oft als natürlich bezeichnet werden oder wurden und deren Aufrechterhaltung bisher immer gesichert wurde durch den Staat oder die Gesellschaft; Strukturen, die den Unterschied stützen zwischen Mann und Frau, zwischen Rassen, zwischen Klassen, zwischen Nationen, zwischen Weltanschauungen, zwischen Religionen. Diese Strukturen basieren allzu oft auf Traditionen, auf historischen Bedingungen, die zu einer bestimmten Zeit es für notwendig gemacht haben mögen, Grenzen zu ziehen; Grenzen, die oft politisch und ökonomisch bedingt waren. Eine Trennung in Klassen, in Bürger, Nichtbürger und Sklaven gab es schon in der Antike und der Ur- und Frühgeschichte, eine Trennung nach Kapital und politischen Zugehörigkeiten, die bequem war und es dem Staat ermöglichte, sein Gewissen zu beunruhigen. Die Verwendung des Rassenbegriffes in Kombination mit der Sklaverei ging dann in der "aufgeklärten" Neuzeit noch weiter,- jetzt war es noch einfacher, Sklaverei zu rechtfertigen - ein "natürlicher" Gegensatz war konstruiert worden. Genauso, aber bei weitem noch unbeschreiblicher, basieren Holocaust und "ethnische" und andere "Säuberungen" auf diesen Konstruktionen. Biologisch mehr oder weniger vorhandene Unterschiede oder besondere Merkmale, oder einfach die Zugehörigkeit zu einer anderen Gruppe, bilden die Grundlage für eine organisierte Diskriminierung, die bei weitem nicht mehr als natürlich erachtet werden kann. Die Trennung der Geschlechter mag sich nicht in derartig grausamen Ketten von Einzelereignissen geäußert haben, aber nichts desto weniger wird sie konstruiert aus biologischen Unterschieden, denen weitere, nicht-biologische Verschiedenheiten angedichtet werden[17]. Die Trennung wird perfektioniert durch Kanonisierung und Sanktionierung. Nicht-weibliche Arbeiten und Funktionen werden einfach definiert, aber von wem? Rollentypen und -schemen werden anerzogen und angelernt durch die Kultur und die Gesellschaft, in welcher wir leben. Doch anstatt die Trennung aufzuheben, wird noch verstärkt darauf hingewiesen durch Quoten und Zwangsmaßnahmen. Und selbst diese über Jahrhunderte übliche Präsenz der Abgrenzungen und Konstruktivität wird wiederum als Beweis für deren Natürlichkeit herangezogen, für jede Art von Diskriminierung. Und die benutzte Sprache, die zur Rechtfertigung benutzt wird, ist oft nur allzu euphemistisch und, genauso wie die konstruierte Wiedergabe der Ereignisse selbst, fiktiv und unzuverlässig[18]. Gibt es einen Kontext, in dem wir verstehen könnten, was wirklich geschehen ist, was wirklich wahr ist? Ein neues Verständnis für diese Konstruktionen ist auch in der Literaturgeschichte notwendig geworden:
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5. Dekonstruktion5.1. StrukturenGeht man einmal von der optimistischen Annahme aus, daß sich uns ein gewisses Verständnis für die Hintergründe und Abläufe hinter den Konstruktionen erschließen könnte, so kann das nur geschehen durch Analyse der Strukturen selbst, immer in der Gewißheit, daß durch die notwendige Benutzung von Sprache und anderen konstruktivistischen Mitteln wieder nur ein unvollständiges Bild gezeichnet werden kann. Aber schon allein der Versuch, ein Verständnis zu entwickeln für etwas, das an sich in seiner Fülle unverständlich ist, schon allein dieser Versuch ist es, der eine Sensibilität dafür entstehen lassen kann, was wir zuvor als gegeben und natürlich akzeptiert hatten:
Bei dieser Dekonstruktion, die keine Destruktion sein soll, geht es wie bei einem Gericht zu: Fakten (oder das, was wir als Fakten konstruiert haben) werden auf ihre Zulässigkeit und Richtigkeit und Berechtigung geprüft. Verteidiger ist die Vergangenheit, sind Tradition und Geschichte. Ankläger ist die Gegenwart, sind soziale Mißstände und Probleme, sind unverarbeitete Tragödien und Verbrechen, sind ungelöste Probleme von Wissenschaft und Philosophie und Religion. Ziel ist - wie bei aller Philosophie - die Zukunft. Somit ist eine weitere Konstruktion in Ansätzen sichtbar: Die Konstruktion der Zeit selbst, die Konstruktion von Ursache und Wirkung. Vergangenheit und Zukunft sind in der Gegenwart stets präsent, sei es durch Erinnerungen oder Vorzeichen oder Wünsche. Die Zukunft motiviert uns, kann selbst ihr eigener Ursprung sein, ein wieder nicht ursprünglicher Ursprung, weil er verwurzelt ist in einer Reihe von Kausalitäten, die sich wieder mit anderen verknüpfen und so viele Variablen bilden, daß es unmöglich ist, dieses Geflecht aus Argumenten zu entwirren. Heißt das, daß notwendigerweise jede Dekonstruktion scheitern muß? Oder heißt es nicht viel eher, daß wir erkannt haben, daß nicht mehr alles in unserer Reichweite liegt? Eine Zurücknahme der Erwartungen, eine reductio ad minimum - die Philosophie mag dann kleiner wirken, aber sie wird den Realitäten und der Individualität der konstruierten Welt eher gerecht:
5.2. AbschlußAngefangen wurde bei Walter Abishs "Alphabetical Africa", einem Buch, das über die Sprache, über das Zeichen quasi als literarische Fallstudie reflektiert. Sprache und Schrift sind in einer Krise der Repräsentation, weil man sich bewußt geworden ist, daß - wie oben gezeigt - beide sich auf künstliche Konstruktionen stützen. Diese Erkenntnisreihe, beginnend mit Selbstreflexivität, weiterführend zu diskursiven Betrachtungen und einer Betrachtung der Sprache selbst, zeigt die Komplexität eines Themas, dessen sich der Poststrukturalismus bewußt geworden ist. Dabei sollen nicht etwa die Sprache oder die Schrift aufgehoben werden, aber es ist - wie jede Philosophie - ein Versuch, sich näher an die Realität heranzutasten, sei es in Philosophie oder Literaturwissenschaft. Der literaturwissenschaftliche Effekt wäre eine genauere und aber auch komplizierte Analyse, nicht mehr Interpretation, eines Werkes.
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6. Anhang6.1. Zitierte Werke
6.2. Endnoten[1] Derrida. Die Schrift und die Differenz. 17f
[2] Montrose 777
[3] ebd.
[4] Derrida. Die Schrift und die Differenz. 425f
[5] Derrida. "Die différance" 104ff
[6] Derrida. "Die différance" 108ff
[7] Derrida. Die Schrift und die Differenz. 15f
[8] White 2ff
[9] White 9f
[10] Ein Beispiel für den Einfluß der Perspektive des Schreibers auf den Inhalt bieten zum Beispiel die Geschichtswerke von Mommsen über Rom und von Droysen über Griechenland - jeweils gehen sie von der Notwendigkeit der Bildung eines Nationalstaates für die Antike aus, wobei doch von Nationen im heutigen Sinne für die damalige Zeit nicht zu sprechen ist. Allerdings war dieses Thema für das Deutschland des 19. Jahrhunderts interessant.
[11] Barthes 146
[12] Barthes 145
[13] Foucault 48ff
[14] Chaostheorie, Quantenmechanik, Stringtheorie, Grand Unification Theory (vgl. Stephen W. Hawking. A Brief History of Time. N.Y.: Bantam 1988)
[15] Foucault 33f
[16] Foucault 55ff
[17] Rivkin and Ryan, "Feminist Paradigms" 530
[18] Derrida. Die Schrift und die Differenz. 21ff
[19] Kolodny 291
[20] Murfin 186
[21] Rivkin and Ryan. The Class of 1968. 334
[22] Fowles 87
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