versuche ueber politik

# 2 :   identitaet

tis pothen eîs andrôn? pothi toi polis êde tokêes?
wer und woher bist du unter den menschen? wo ist deine heimat und deine eltern?

- Homer, Odyssee 10, 325

Nicht alles, was banal erscheinen mag, ist auch einfach. Die oben gestellte frage, tis eîs, wer bist du, ist allerdings auch nur dann banal, wenn sie der erfragung des namens gilt. Jede darueber hinausgehende antwort erforderte allerdings einen erheblichen grad an introspektive und ggf. auch psychoanalytischer erfahrung, der den hiefuer geplanten rahmen wohl sprengen wuerde. auch soll es hier um politik gehen.

Identitaet kann vieles sein. Politische identitaet aeussert sich meistens in form von citizenship, und es ist insofern zu unterscheiden zwischen den kategorien "buerger" und "einwohner", die frage hierbei ist allerdings, auf welcher grundlage dies erfolgen soll, und wie man vom einwohner zum buerger wird, oder eventuell, vom buerger wieder zum einwohner.

Buerger, politês, civis; all das impliziert nicht nur eine zugehoerigkeit zu einem staatengebilde, es impliziert involviertheit, impliziert teilnahme. Ein buerger ist auch immer ein souveraen, wenn nicht, ist er nur subjekt, regierter, und die verwendung des begriffes "buerger" bleibt ein euphemismus. In einer demokratie aber ist jeder einzelne die regierung, jeder einzelne ein koenig; jeder einzelne teilhaber an der politischen verantwortung, die zwar delegiert, aber nicht vollstaendig abgegeben oder verleugnet werden kann: Eine demokratie der nichtteilnahme ist keine demokratie sondern eine oligarchie mit anderen vorzeichen; andererseits wiederum kann demokratie auch keine vollteilhabe aller bedeuten: hier kaeme der spruch von den vielen koechen zum einsatz, besonders, wenn man den gesamtstaat, nicht nur die kommunale ebene betrachtet.

Was ist dann die politische identitaet in einer demokratie? Wenn, wie es in jeder demokratischen verfassung angedacht ist, der buerger teilnehmen soll am staat, und der staat sich aus seinen buergern rekrutieren soll, darf dieses verfahren nicht von der teilnahme abschrecken, muss es die teilnahme foerdern und darf sie nicht uebermaessig verklausulieren, verkomplizieren, konstruieren und abstrahieren. Identitaet muss konkret fassbar sein, sowohl die identitaet des einzelnen, als auch die identitaet des repraesentierenden organs. Nicht umsonst sind personen im wahlkampf so wichtig, und sind es (entgegen populaeren irrtums) schon immer gewesen. Eine idee muss sich konkret manifestieren, muss sichtbar werden, ansonsten ist sie wertlos. Ideen kommunizieren sich durch individuen, das ist nicht neu, ist auch nicht besonders verwerflich. Im gegenteil: Es unterstreicht die menschliche dimension des unternehmens politik, und ermoeglicht es, persoenliche verantwortung zu lokalisieren.

Sind die parteien die grundlage der demokratie? Nein. Parteien koennen nur mittler sein, sie koennen aber nicht einen generalvertretungsanspruch aufstellen. Politik betrifft den staat, der staat sind die menschen: Die macht geht von den menschen, vom volk, aus; sie mag ueber die parteien vermittelt werden, aber das ist nur ein organisationsprinzip, welches sich nicht so in den vordergrund draengen darf, dass es die prinzipien und ideale einer demokratie ueberlagert. Politik soll nicht der politik oder der parteien wegen geschehen, sondern der menschen wegen. Das mag sich naiv und dumm und rosarot anhoeren, ist es vielleicht auch, aber dadurch wird es nicht falsch, im gegenteil.

Politik und politische identitaet duerfen nicht nur angelegenheiten der logik und der staatsraison sein, sie muessen sache des herzens sein. Die demokratie ist kein abstractum, im gegenteil, ihr liegt ein sehr konkreter glaube an gerechtigkeit zugrunde. Ohne eine echte leidenschaft fuer das, was demokratie ausmacht, also sowohl fuer den dêmos, das volk, und zwar so, wie es ist, und fuer die kratia, die herrschaft und ordnung und macht, ohne eine leidenschaft fuer diese beiden funktioniert es nicht. Demokratie kann nicht verwaltet werden, sie muss gelebt und geliebt werden. Es kann und darf keine alternative zur demokratie bestehen: Und auf lange sicht hin, darf auch keine alternative geduldet werden. Es gibt keine alternative, keinen anderen weg: Wenn sich die philosophie an den menschen orientieren soll, dann hat sie nur diese wahl: Den menschen tatsaechlich, aufgrund ihrer inhaerenten und unveraeusserlichen wuerde und rechte, die macht zur verwirklichung ihrer traeume zuzugestehen. Politik ist somit der vermittler der traeume, wuensche und beduerfnisse, sowie der regulator der alptraeume, flueche und exzesse.

Die eigene politische identitaet sollte somit gekennzeichnet sein durch die teilnahme an der verantwortung: Sei es durch das wort oder die tat, oder beides. Auch sollte politische identitaet nicht als privileg oder buerde verstanden werden: Sie sollte jedem, der am leben in der demokratie interessiert ist, zuteil werden. Die rasche erteilung des buergerrechtes an einwanderer ist somit keine grosse geste der gnaedigkeit, sie ist eine selbstverstaendlichkeit.

Nationale identitaet ist heute etwas anderes, ist zu politischer identitaet geworden. Die nation in ihrer urspruenglichen bedeutung existiert heute nicht mehr, vor allem nicht in Amerika und Europa, und schon gar nicht mehr in Deutschland. Nation bezeichnet heute nicht mehr den volksstamm, das "blut" (und das eigentlich schon seit sehr langer zeit, nur tritt es heute immer deutlicher zutage), nation ist heute ein politischer begriff. Deutscher ist man nicht mehr aufgrund rassischer kriterien, was jetzt auch juristisch durch die abschaffung des ius sanguinis zugunsten des ius soli illustriert wurde. Deutscher ist man, wenn man in Deutschland lebt, egal, wohin die familiengeschichte fuehrt. In diesem zusammenhang von "auslaendischen mitbuergen" zu reden, ist nicht nur absurd, es ist rassistisch und zutiefst anti-demokratisch: Ethnische und politische identitaet sind verschieden. Nur wenn dies so akzeptiert wird, kann politische identitaet auch tatsaechlich demo-kratisch sein: Es ist nicht aufgabe der politiker, sich das volk auszusuchen, sondern das volk in seiner gesamtheit zu repraesentieren.

Nur eine derartige transzendenz des veralteten nationsgedankens wird es auch moeglich machen, dass Europa sich in zukunft als identitaetsstiftende institution verstehen laesst: Persoenliche und ethnische identitaet gehen in der politischen auf; interessenvertretung ist eine sachfrage, keine zugehoerigkeitsfrage. Es zaehlt nicht, wie die umgebung eines stadtbezirks ethnisch zusammengesetzt ist, es zaehlen die sozialen und wirtschaftlichen probleme. Hautfarbe, herkunft, ethnizitaet, geschlecht und religionszugehoerigkeit sind irrelevant fuer die beurteilung eines menschen und dessen politische identitaet. Nur so kann Deutschland aus dem schatten der nazistischen und kommunistischen vergangenheit enfliehen und tatsaechlich zu einem vorreiter der demokratie und der menschlichkeit werden.



17. Februar 2002